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Hungern für Medaillen: Wenn Leistungssport krank machtDie Forderung nach hoher Leistungsfähigkeit bei niedrigem Gewicht führt bei entsprechender Disposition zu EssstörungenViele Disziplinen des Leistungssport treiben das Ideal des jungen, überschlanken, leistungsfähigen Körpers auf die Spitze. Über dem Streben nach Erfolg wird manche Sportlerin krank, sie entwickelt früher oder später Essstörungen. von Maja Langsdorff
Sie sind ehrgeizig, zäh, streben nach Perfektion und scheinen sich immer unter Kontrolle zu haben. Sie sind leistungswillig, bereit, sich unterzuordnen und Erwartungen zu erfüllen, die an sie herangetragen werden. Sie funktionieren - und kreisen oft in Gedanken ständig ums Essen, ihr Gewicht, ihren Körper. Menschen mit Essstörungen wie Magersucht oder Essbrechsucht und Leistungssportlerinnen haben vieles gemeinsam, nicht selten auch ernste Probleme mit dem Essverhalten. Eine bestimmte Persönlichkeitsstruktur gepaart mit der Notwendigkeit oder dem Anspruch, ein rigides Figur- oder Gewichtsideal zu erfüllen, führt häufig in ein gestörtes Essverhalten. Ein bis zwei Prozent aller Mädchen und jungen Frauen sind magersüchtig, bis zu fünf Prozent essbrechsüchtig. Es ist ein offenes Geheimnis, dass im Leistungssport die Zahlen deutlich höher liegen. Nach einer Studie des Kölner Bundesinstituts für Sportwissenschaft leiden bis zu 25 Prozent aller Sportlerinnen unter Essstörungen; im Eiskunstlaufen oder Turnen sogar mehr als 60 Prozent, ermittelten amerikanische Wissenschaftler. Das Risiko ist vor allem hoch bei ästhetischen Sportarten wie Ballett, Tanzen, rhythmischer Sportgymnastik und Kunstturnen hoch, außerdem bei Ausdauersportarten wie Langstreckenlauf und Sportarten, für die wenig Gewicht Bedingung oder günstig ist, etwa Skispringen oder Boxen. Ernst Jakob, Internist am Lüdenscheider Sportkrankenhaus Hellersen, warnt aber vor falschen Rückschlüssen. Magersüchtig werde nur, wer »eine entsprechende Disposition mitbringt. Es ist nicht jeder magersüchtig, der sehr dünn ist.« Die Bremer Sport- und Kulturwissenschaftlerin Monika Thiele ergänzt: »Magersucht ist abhängig von einem bestimmten psychischen Grundmuster. Da spielen gesellschaftliche und innerfamiliäre Faktoren hinein, möglicherweise auch, wie eine Trainerin mit dem Mädchen umgeht.« Treffen sportlicher Ehrgeiz und Leistungswille auf die kompromisslose Forderung nach einem zierlichen, leichten, beweglichen Körper, steigt das Risiko. Manche Sportarten treiben Mädchen, die wenig Selbstbewusstsein haben, innerlich wenig gefestigt und auf der Suche nach ihrer Identität sind, regelrecht in die Essstörung hinein. Monika Thiele weiß über die rhythmische Sportgymnastik: »Extremes Untergewicht ist ein Muss; das Ideal ist Körpergröße minus hundert minus 30 bis 40 Prozent« – also 42 bis 49 bis Kilo bei 1,70 Meter. Nur eine Magdalena Brzeska durfte sich 50 Kilo bei 1,74 Meter leisten, weil sie, so Thiele, »ein gutes Standing hatte: einen männlichen Manager, einen männlichen Sponsor, einen Millionenvertrag.« Manche Trainerin stellt ihre Schützlinge dreimal täglich auf die Waage und sorgt so für eine Überfixation aufs Gewicht. Ein Teufelskreis: Je ambitionierter die Mädchen sich zügeln und dem Ideal entgegenhungern, desto wichtiger wird für viele das Essen. Manche/r verzichtet so lange, bis sich Heißhungeranfälle einstellen oder schafft es nicht, mit dem Hungern aufzuhören – wie die Weltklasseturnerin Christy Henrich, die 1994 mit 22, und der Olympiasieger im Ruder-Achter Bahne Rabe, der mit 37 Jahren starb, beide infolge ihrer Magersucht. Abnehmen kann in vielen Disziplinen bis zu einem gewissen Maß zur Verbesserung der Leistung führen. Aber das Ganze kann auch kippen, wenn durch die zu geringe Kalorienzufuhr die Muskelmasse abnimmt oder das Essverhalten entgleist. Essgestörte Leistungssportlerinnen setzen durch die Doppelbeanspruchung Sport und Mangel- oder Unterernährung ihre Gesundheit aufs Spiel, müssen Infektionen fürchten, Elektrolytentgleisungen, Herzrhythmusstörungen, Zyklusprobleme, Osteoporose. »Durch die Fehlernährung kann der Knochenstoffwechsel beeinträchtigt werden,« erklärt Ernst Jakob, »aber der Sport selber wirkt dem entgegen«. Leistungssport als solcher erhöhe eher die Knochendichte. Das Ausbleiben der Regel durch Essstörung plus Leistungssport aber kann zu Entkalkung führen. Wissenschaftler stellten etwa fest, dass magersüchtige Balletttänzerinnen sich häufiger Knochen brechen und dass die Knochendichte bei leichtgewichtigen Skilangläuferinnen ohne Regelblutung abnimmt. Die Regel ist im Sport nicht die Regel, und danach kann es zwei Jahre dauern, bis sich der Menstruationszyklus normalisiert hat. Manche Disziplinen halten Sportlerinnen körperlich und mental im vorpubertären Stadium. So Sportgymnastinnen kommen sehr jung ins Training. Sie können und dürfen, so Thiele, nicht biologisch zur Frau werden, »aber die Mädchen werden schon mit Acht geschminkt und auf Frauen getrimmt«. Mit aufgesetzt koketten, verführerischen Gesten wetteifern sie um Medaillen. Kaum einer weiß von den »weggeworfenen Kindern« der erfolgreichen Trainerin: Mädchen, die bei Meisterschaften kurzfristig wegen einem Pfund zuviel aus der Mannschaft gekegelt wurden. Nicht wenige wurden nach dem abrupten Karriere-Ende mager- oder essbrechsüchtig. »Schlimm, wenn sie sich später in die Trainerposition begeben. Dann geben sie wahrscheinlich sadistisch das weiter, was sie selbst erfahren haben.« Das Ende der Sportlerkarriere ist so oder so ein kritisches Lebensereignis. Was lange Halt gab und Ziel war, bricht weg. Aber »das Aufhören heißt ja nicht, ich gehe jetzt ganz anders mit meinem Körper um; es gibt ja bestimmte Werte, die im Sport und auch nachher für diese Personen eine Rolle spielen«, sagt die Dortmunder Sportpsychologin Gaby Bußmann, selbst ehemalige Leistungssportlerin und mehrfache deutsche Meisterin über 400m und 800m Staffel. Wer vorher bestenfalls kontrolliert gegessen hat, läuft jetzt Gefahr, in eine Essstörung abzudriften. Denn die Angst, dick(er) zu werden, bleibt. Hatte der Sport gute Tages-, Wochen-, Jahresstrukturen und Ziele vorgegeben, fehlen jetzt oft Inhalte, Orientierungsmöglichkeiten, Strukturen – psychologisch denkbar schlechte Voraussetzungen. Die Nachbetreuung der Aussteigerinnen, die sich aller ihrer Werte beraubt fühlen, dient ihrer seelischen Gesundheit. Organisationen wie der Olympiastützpunkt Westfalen Dortmund betreuen und begleiten sie deshalb in dieser kritischen Phase.
Literaturempfehlungen zum Thema:Eva Bartl: Anne Schillingmann: Theresa Schneller: Brigitte Blickling: Karina Haufe: Marion Lebenstedt / Gaby Bußmann / Petra Platen:
Adressen:
Olympiastützpunkt Westfalen Dortmund, Strobelallee 60, 44139 Dortmund
Interessanter Link zum Thema:
»Wir können nicht alle Windhunde sein« Spiegel online-Interview mit mir vom 5.8.2011 zu Essstörungen im Leistungssport |