Artikelarchiv von Maja Langsdorff
Der folgende Artikel erschien 1996 in der »Stuttgarter Zeitung« und wird hier aktualisiert wiedergegeben
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Machos haben keine Magersucht
Essstörungen bei Männern sind nach wie vor selten, aber erklärbar
Mit schöner Regelmäßigkeit melden in den letzten Jahren Print- und andere Medien, dass
»immer mehr« Jungen und Männer an Essstörungen erkranken. Ihr Anteil unter den Essgestörten
soll »schon« zehn Prozent betragen - doch das ist kaum mehr als die Schätzungen vor einem
Dutzend Jahren. Richtig ist, dass die Zahl der männlichen Betroffenen zunimmt, aber nicht epidemisch.
Jungen und Männer trauen sich heute nur eher, fachliche Hilfe zu suchen.
von Maja Langsdorff
Wer im Skisport weit fliegen will, muss federleicht sein. Im Streben nach Leichtigkeit scheint aber mancher
übers Ziel hinauszuschießen. Christian Moser hungerte sich 1996 bei 1,81 Meter auf 58 Kilo herab und
brach im Sommer in Stams vor Erschöpfung zusammen. Moser musste wegen Magersucht behandelt werden. Sein
Sportlerkollege Sven Hannawald (1,83 m/54 kg) wies jeglichen Verdacht von sich, magersüchtig zu sein,
wälzte aber Literatur über Diäten, hungerte phasenweise und gab an, er würde auf eine einsame Insel
»einen Backofen und Kochrezepte« mitnehmen. Und Leichtgewicht Mika Lattinen (1,85 m/63 kg)
siegte seinerzeit zwar in Oberstdorf, stürzte aber überraschend schwer in Garmisch. Das drastische
Untergewicht von Hannawald und Lattinen lassen ebenfalls an Essstörungen denken.
In den letzten Jahren häufen sich die Berichte über Männer, die an Essstörungen leiden. Besonders
gefährdet scheinen Sportler zu sein, neben Skispringern auch Eisläufer, Langstrecken- und Marathonläufer,
Jockeys und Turner. Essstörungen wie Magersucht, Essbrechsucht und Esssucht gelten aber als typische
Frauenkrankheiten: bis zu 95 Prozent der Betroffenen sind weiblich. Sind Fälle wie die der Athleten
nur die Spitze eines Eisbergs? Ist damit zu rechnen, dass Essstörungen auch verstärkt auf Männer
übergreifen werden?
Vermutlich nicht. Wenn Medien berichten, dass »immer mehr« Männer an Essstörungen leiden,
suggeriert dies eine Dynamik, die noch keine seriöse Studie nachweisen konnte. Der als »Ernährungspapst«
gefeierte Göttinger Ernährungswissenschaftler Volker Pudel hält aufgrund einer Befragung von
3000 Männern in Ost und West zehn Prozent aller deutschen Männer für essgestört. Doch seine Zahlen
sind wegen »diffuser Befragungs- und Diagnosekriterien« (»Der Spiegel« 51/1994)
umstritten. Pudel selbst gesteht im persönlichen Gespräch ein, dass sich die Ergebnisse aus Studien
nicht mit den klinischen Erfahrungen decken.
Dass mehr als zehn Jahre, nachdem Essstörungen bei Frauen aus der Tabuzone gerückt wurden, mehr
essgestörte Jungen und Männer auftauchen, liegt wohl daran, dass dieses Phänomen inzwischen als
Krankheit anerkannt ist und mehr Menschen den Mut aufbringen, sich zu ihrem Problem zu bekennen.
Nicht eine Epidemie, sondern das Öffentlichwerden (Coming-Out-Effekt) bewirkt, dass auch Männer
nun die Hemmschwelle überwinden und professionelle Hilfe suchen.
»Der Anteil der Männer hat sich in unserer Klinik in den letzten neun Jahren verdoppelt, aber
er ist nie über fünf Prozent gestiegen«, sagte 1996 Georg Ernst Jacoby, Chefarzt der Klinik am Korso
in Bad Oeynhausen, einem Fachzentrum für gestörtes Essverhalten. Bei »Dick und Dünn« in
Berlin, der wohl größten deutschen Beratungseinrichtung für Essgestörte, beobachtete man Ende der neunziger
Jahre kein verstärktes, allerdings ein kontinuierliches Interesse von Männern an Beratungen. Und
die Psychodrama-Therapeutin Verena Vogelbach-Woerner vom Frankfurter Zentrum für Essstörungen sieht,
dass Ursachen für Essstörungen wie sexuelle Gewalt, Missbrauch, soziale Verwahrlosung Mädchen wie
Jungen treffen können, hält aber trotzdem »Essstörungen nach wie vor eine weibliche Antwort auf
unlösbare Probleme«. Woran aber liegt es, dass Männer überhaupt an der Frauenkrankheit Essstörungen
erkranken können?
Kommen wir zurück zu den Sportlern. Gerade dort, wo sportliche Leistung davon abhängt, wie wenig man(n)
auf die Waage bringt, lauert die Gefahr. Sportler erleben ihren Körper als ein Instrument, das sie
beherrschen und kontrollieren müssen und sind zwangsläufig stark körperfixiert. Sie unterziehen sich,
wie viele Frauen, Diäten.
Essstörungen können viele Ursachen haben, doch Abmagerungskuren gelten als die Einstiegsdroge. Das weibliche
Schlankheits- und Schönheitsideal findet im Körperideal mancher Sportarten eine spezifische, männliche
Entsprechung. Von hier ist der Weg nicht weit bis zur Fixierung auf Figur oder Gewicht und Essen - ein
Leitsymptom jeder Essstörung. Bestimmte Persönlichkeitsmerkmale wie mangelndes Selbstbewusstsein,
Perfektionismus, starke Leistungsorientierung, aber auch Rollenkonfusionen erhöhen das Risiko, über
dem Streben nach dem Ideal essgestört zu werden.
Essstörungen sind anscheinend nicht immer nur seelisch bedingt und werden durch frühkindliche Störungen
oder sexuelle Übergriffe ausgelöst, sondern haben auch viel mit aktuellen Einflüssen und Druck von
außen zu tun. Männer geraten vor allem dann in Gefahr, Essstörungen zu entwickeln, wenn ihr
Erscheinungsbild von übergeordneter Bedeutung ist wie bei Athleten, Models, Managern, Entertainern.
Auch scheint das Risiko für solche Jungen und Männer höher zu sein, die Schwierigkeiten mit ihrer
Identität als Mann und dem männlichen Rollenverständnis haben (etwa, weil sie ohne Vater aufwuchsen).
Darauf deuten Studien wie die von Manfred Fichter, Leiter der Medizinisch-Psychosomatischen Klinik
Roseneck in Prien am Chiemsee hin.
Der wesentliche Risikofaktor ist nach Expertenmeinung jedoch das gewandelte Männlichkeitsbild: Der
Body muss makellos und muskulös, der Po knackig sein. Wer wenig selbstbewusst ist, spricht stärker
auf solche Schönheitsideale an und erfasst seine Unvollkommenheit. Das Äußere des Mannes gewinnt
an Bedeutung, aber es hat längst nicht denselben Stellenwert für das Selbstwertgefühl beim Mann
wie bei der Frau.
Traditionell definieren sich Männer mehr über ihren beruflichen Erfolg, ihre Macht, ihre Potenz,
ihren Geldbeutel - Frauen dagegen über ihr Äußeres - und sie werden auch primär über ihr Aussehen
und ihren Körper definiert. Stark vereinfacht heißt das: Männer haben einen Körper, Frauen sind
ihr Körper. Wird unter dem äußeren Druck das Abnehmen zur fixen Idee, ist das nur ein
Nebenkriegsschauplatz, der von den eigentlichen Problemen ablenkt: mangelnde Konfliktfähigkeit,
Minderwertigkeitsgefühle, emotionale Schwierigkeiten, Versagensängste, die Unfähigkeit, nein zu
sagen und eigene Bedürfnisse und Wünsche zu erkennen und durchzusetzen - in der Regel spezifisch
weibliche Konfliktfelder.
Jungen und Männer haben in ihrer anderen Sozialisation und einer Erziehung, die mehr auf Aggression,
Konfliktfähigkeit, Durchsetzungsvermögen, Härte und Männlichkeit abzielt, einen entscheidenden
Schutzfaktor gegen Essstörungen. Weibliche »Qualitäten« wie Anpassungsfähigkeit, Einfühlsamkeit,
Selbstlosigkeit, Weichheit begünstigen die Kompensation von seelischen Problemen durch süchtigen
Umgang mit Essen und Hungern. Essstörungen sind der stumme, körperlich ausgedrückte Hilfeschrei
derjenigen, die nicht auffallen wollen, Konflikte scheuen und sich abhängig machen von der
Meinung anderer - dass dies häufiger auf Mädchen und Frauen als auf Jungen zutrifft, dürfte
niemand bezweifeln.
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