Rache ist weiblich
oder: Die getäuschte Liebe
von Maja Langsdorff
Es war Nacht. Dunkel war es um die Frau, düster und beklemmend, nur ein ausgezehrter Mond warf sein fahles Licht in die Dachstube. Die Frau saß am Tisch, in der zitternden Hand eine Tablettenschachtel, neben sich ein Glas Wein.
Hinter ihr lagen zwei Stunden Fahrt auf der Autobahn. Sie hatte zu viel Alkohol getrunken, war wie benebelt durch die Nacht gerast. Weg, weg, nur weg von ihm. Hinter ihr lag ihre Zukunft. Hinter ihr lagen sechs verschenkte Jahre.
Sie waren in Wiesbaden gewesen, in einer kleinen, schäbigen,
verrauchten Kneipe. Vier Wochen hatten sie sich nicht mehr sehen
können. Die Frau lebte hier, er dort. Zwischen ihnen lagen 220
Kilometer Asphalt, vierspurig, sechsspurig, vollgestaut. Zwischen
ihnen lagen nun auch Welten.
Es war kurz vor Ostern. Frühmorgens war sie vom Gesang einer Amsel
geweckt worden. Ihr erster Gedanke war Er. Sie hatte von ihm
geträumt, und ihre Sehnsucht, ihn endlich wiederzusehen, ließ den
Entschluss in ihr reifen, ihn später anzurufen.
***
Ja, mein Bärchen, wenn du willst, dann komm doch heute abend,
hatte er gesagt. Es war Mittwoch, und sie hatte den Rest der
Woche Urlaub genommen. Er lebte allein, nur die Woche über,
in einer fremden Stadt, fern von Frau und Söhnen. Als er
von seiner Firma ver-setzt worden und fortgezogen war,
hatte es für sie - für sie beide? - eine hoffnungsvolle
Trennung bedeutet.
Sie hatte begonnen, ihm täglich zu schreiben. Es war ihr zum
Überlebensritual geworden. Jeden Abend setzte sie sich an ihren
kleinen Schreibtisch und teilte heimlich ihre Gedanken mit ihm.
Nie hatte sie es gewagt, einen der ungezählten Briefe abzusenden.
Dickerchen, hatte er gesagt, lies sie mir einfach
irgendwann vor. Was meinst du, was los ist, wenn diese Briefe
jemand findet. Und so schrieb sie ihm weiter, Abend für Abend,
in der Hoffnung, die Heimlichkeit würde irgendwann ein Ende haben.
Sie fühlte sich ihm nah, sie hatte sich ihm seit der ersten Begegnung
stets nah gefühlt. Jeden Tag der sechs Jahre, jeden einzelnen der
zweitausendeinhundertzwei verdammten Tage. Selten hatten sie sich
treffen können, anfangs zwei- oder dreimal die Woche, später nur
noch einmal, dann auch mal 14 Tage oder drei Wochen gar nicht.
Liebes, du musst mich verstehen, ich muss vorsichtig sein.
- Sie hatte stets auf ihn gewartet. Hatte mit der Zeit alle
Freundinnen und Freunde verloren, weil ihr das Telefon zum
Fixpunkt ihres Lebens geworden war.
Schatz, ich liebe dich. Wir sehen uns Freitag, ja?
Es wurde Freitag und kein Anruf kam. Es wurde Mittwoch und das
Telefon klingelte.
Kleines, es tut mir leid. Ich stecke bis über beide Ohren
in der Arbeit. Morgen, ja? Es war ein elendes Spiel mit
der Zeit gewesen. Sie hatte von Treff zu Treff gelebt.
Und irgendwann war er dann doch gekommen. Sie war ihm jedes Mal
wie süchtig um den Hals gefallen, süchtig, seine Wärme, seine
Nähe, seine Anwesenheit zu spüren. Er hatte seine Armbanduhr
auf den Nachttisch gelegt und sie genommen, gierig, wie ein
Verhungernder. Oft genug hatte sie dabei geblutet, hatte ihn
dafür gehasst und ihn doch gleichzeitig geliebt: Er ist ein Mann.
Danach war er ruhig geworden, und sie konnte schmusen mit ihm.
Wenn Zeit blieb, aßen sie noch zusammen. Dann hob er mit
bedächtiger Handbewegung seine Uhr auf, band sie um und rang
sich ein paar tröstliche Worte ab. Sie blieb allein im Gefängnis
ihrer Dachkammer zurück. Stets weinte sie bittere Tränen: Hatte
sich das gelohnt? War das der Mann, den sie liebte? Ja - er hatte
es ihr tausendfach versprochen: Irgendwann schaffen wir es,
mein Mädchen, hab Geduld und hab mich lieb.
Seine Scheidung, hatte er einfließen lassen, würde ihn 35.000 Mark
kosten, die er nicht aufbringen konnte. Sie begann zu sparen.
Für die Kinder hatte er einen Garten gepachtet. Eines Tages wurde ihm
dieser Garten angeboten. Lächerliche 35.000 Mark sollte er kosten.
Er war wildentschlossen, das Geld zusammen zukratzen. Für die Kinder.
Die Frau hatte ihre Zweifel verdrängt. Sie war stolz auf ihn.
Was für ein guter Vater er seinen Kindern ist!
So lange hatten sie sich nicht mehr gesehen, und vieles ging ihr
durch den Kopf auf de Fahrt nach Wiesbaden. Seine Söhne waren
nun 14 und 16 Jahre alt, begannen langsam, ihr eigenen Wege
zu gehen. Er wohnte getrennt von seiner Frau, zumindest die
Woche über. Was, wenn ich wegzöge von hier, arbeitete es in
ihrem Kopf. Damals, am ersten Abend, hatte er von sechs,
acht Jahren gesprochen. Dann würden die Söhne groß genug
sein. Sechs Jahre waren um.
Zum ersten Mal betrat sie die Schwelle "seines" Hauses. Es
war ein bescheidenes Drei-Familienhaus aus den sechziger Jahren,
in de er eine billige, bieder möblierte Einliegerwohnung
gemietet hatte. Ihr war feierlich zumute, als sie den
Klingelknopf neben seinem Namensschild drückte.
Komm ´rein. Es war ein kühler, seltsamer Empfang. Er hat
Arbeit, anstrengende Arbeit entschuldigte sie ihn. Und sie
brachen auf in diese schäbige, verrauchte Kneipe. Sie saßen
sich gegenüber wie zwei Fremde. Er kalt, abweisend. Sie hilflos,
verzweifelt. Und plötzlich erinnerte sie sich an jenen Abend in
ihrer einstigen Stammkneipe. Was war denn los mit euch, hatte sie
der Wirt beim nächsten Besuch gefragt, was war denn das für ein Typ?
Ihr habt ausgesehen wie vierzig Jahre verheiratet. Sie hatte es
verdrängt. Er beteuerte doch wieder und wieder, wie sehr er sie
liebte, und dass es nur eine Frage der Zeit sein würde ...
Hab Geduld, mein Häschen.
Heute war sie nicht Häschen, Bärchen, Liebes. Sie verließen das
Lokal, und sie hoffte noch immer auf ein klärendes Wort, auf eine
versöhnliche Geste. Er schleuste sie wie eine verbotene Ware in
sein Appartement, verzichtete auf Licht im Treppenhaus. Es
sind ja nur ein paar Schritte, lohnt sich doch nicht.
Gewalt, Gewalt - er hat mich vergewaltigt, dröhnte es Stunden
später in ihrem Kopf. Was ist mit dir?, hatte sie gefragt.
Er hatte gebrummelt: Ich bin müde, gehen wir ins Bett.
Kaum hatte sie, Nähe suchend, nach seiner Hand gegriffen, wälzte
sich ein schwerer, schwitzender Körper über sie, nahm sie in
Besitz, presste sie mit rhythmischen Bewegungen in die Matratze,
keuchte und stöhnte über ihr. Sie spürte Brechreiz und würgte.
Du liebst mich also noch?, fragte sie bitter danach.
Das war's doch wohl, was du wolltest, oder?
***
Die Frau war fassungslos. Das nennst du Liebe? Er drehte sich weg.
Du kotzt mich an mit deinem Liebesgedöns. Das mit uns ist doch
längst passé, begreif es doch endlich. In dieser Nacht erfuhr
sie, dass er längst eine andere hatte, kennen gelernt in der letzten
Kur, dass er natürlich wieder mit seiner Frau schlafe. Natürlich.
Dass er sie, seine Frau, liebe. Sie ist die Mutter meiner Kinder.
Es war Nacht. Die Frau saß noch immer am Tisch, leer das Glas und
leer die Tablettenschachtel. Leer sie selbst, und doch von grenzenloser
Ruhe erfüllt. Sie würde es überleben. Jetzt nur schlafen, schlafen,
schlafen. Irgendwann würde sie aufwachen und sie anrufen. Sie, die
andere Betrogene. Endlich spürte sie wieder Nähe. Nähe zu einer Frau,
die sie nicht kannte, die sie noch nicht kannte. Es war Seine Frau.
***
Es war Abend. Sechzehn Jahre waren vergangen. Die Frau saß noch vor ihrem
Computer, als das Telefon klingelte.
Erinnern Sie sich an mich? Der Frau fiel ein Foto ein, darauf
zwei Jungen in kurzen Hosen. Er war der Kleinere gewesen. Sie hatte
Seine Kinder nur einmal im Leben gesehen, damals, als sie Ihn
heimlich im Garten besucht hatte. Ich stell dich nicht vor, sonst
erzählen die Jungs ihrer Mutter später nur was Dummes.
Erinnern Sie sich wirklich nicht? Ich war zwar klein, aber
dumm war ich nicht. Doch, sie konnte sich dunkel erinnern.
Der Junge war inzwischen fast 30, hatte sich mit Jobs über
Wasser gehalten. Seine Leidenschaft war die Musik, seine Band.
Können wir uns treffen? Morgen? Sie spürte den Drang,
ja zu sagen, gegen alle Vernunft. Nein, sagte sie, morgen geht
es nicht. Sechzehn Jahre sind eine lange Zeit. Sie lebte in
einer anderen Wohnung, mit einem anderen Mann, in einer
anderen Welt.
Dann nächste Woche? Ich möchte Sie gern kennen lernen.
Die Frau sagte ja und zweifelte an ihrem Verstand. Vielleicht
ist es ein Verrückter.
Fast wäre sie wieder gegangen. Sie wartete in dem Bierlokal,
fühlte sich an dutzendfaches Warten erinnert, wollte nicht wieder,
wollte nicht länger warten. Trotzdem wartete sie, wartete wie
damals. Zwanzig Minuten zu spät kam er auf sie zu.
Weniger als drei Stunden reichten, um bei der Frau die letzte Illusion
zu zerstören.
Der Sohn war auf der Suche.
Ein Vater - was ist ein Vater? Sein Sohn fragte Seine
Frau. Der Sohn war verzweifelt. Seine Frau schickte Seinen
Sohn zu einer Frau, die sie nicht kannte, die sie immer noch nicht
kannte, nur einmal im Leben am Telefon gesprochen hatte. Damals
hatte sie Nähe gespürt.
***
Er war ihm nie ein Vater gewesen. Er hatte ihn nie gelobt.
Er hatte ihn nicht einmal wahrgenommen. Nicht ihn, nicht seinen
Bruder. Das Geld für den Garten hatte er nicht aufgebracht.
Er hatte sie alle betrogen.
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