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Artikelarchiv von Maja Langsdorff
Die folgenden Artikel wurden am 4.7.2000 bzw. 13.9.2000 in der »Stuttgarter Zeitung« veröffentlicht

Hauptartikel zum Thema:

»Die Kraft des Wortes wirkt auf den Körper«

Hintergrund:

»Die Geheimnisse um J. H. Schultz«

Service:

Medientipps und interessante Links

Die Kraft des Wortes wirkt auf den Körper

Autogenes Training ist eine Technik, mit der körperliche und seelische Störungen erfolgreich behandelt werden können

Der Erfolg des Autogenen Trainings beruht ganz auf der Kraft der Worte. Mit Autosuggestion kann der Mensch Einfluss nehmen auf Körperfunktionen, die er eigentlich gar nicht steuern kann.

von Maja Langsdorff

Anfang des 20. Jahrhunderts waren sie noch ein gewohnter Anblick. Auf ihren eleganten Gefährten sitzend, harrten die Droschkenkutscher meist in einer typischen Haltung aus. Weil sie oft stundenlang warten mussten, kam es für sie auf eine möglichst entspannte Körperhaltung an: den Rücken leicht gekrümmt, den Kopf gesenkt, die Beine etwas geöffnet und die Unterarme auf die Schenkel gestützt. In dieser bequemen Sitzposition fand der Berliner Neurologe und Psychotherapeut Johannes Heinrich Schultz das Beispiel einer idealen Haltung für seine neue Entspannungstherapie; noch besser war nur das Liegen.

Unter dem Namen »Autogenes Training« (AT) machte diese Methode Furore, seit Schultz nach Jahren intensiver Forschung 1932 zunächst eine akribische wissenschaftliche Darstellung und drei Jahr später ein Übungsheft veröffentlichte. Dieses wird noch heute, nach mehr als Jahrzehnten, inhaltlich unverändert aufgelegt. Allein in den letzten zehn Jahren wurde es 1,6 Millionen mal verkauft.

Tausende von Büchern und Arbeiten erschienen seither zu dem so simplen wie wirksamen Entspannungsverfahren. Millionen von Menschen in aller Welt nutzen die Technik der formelhaften Selbsthypnose und Selbstsuggestion, um zu mehr Gelassenheit und innerer Ruhe zu finden. Volkshochschulen und Krankenkassen lehren AT als Strategie zur Stressbewältigung; Kurkliniken beziehen das vom Ursprung her tiefenpsychologisch orientierte Verfahren in die Therapie ein.

Präventiv eingesetzt, erklärt der Arzt und Diplompsychologe Claus Derra von der Psychosomatischen Klinik Bad Mergentheim, verbessere es »die Fähigkeit, sich zu erholen, mindert die Stressanfälligkeit, verhilft zu besserer Konzentration und Leistungsfähigkeit«. Derra lehrt seit 20 Jahren Autogenes Training. Er lernte es selbst bei einem Schüler von Schultz und setzt das Verfahren erfolgreich zur Behandlung körperlicher und seelischer Störungen ein. Wissenschaftlich abgesichert ist die heilsame Wirkung unter anderem bei Bluthochdruck, verschiedenen Schmerzsyndromen, etwa Spannungskopfweh, Bauchbeschwerden und Asthma.

»Ich bin ganz ruhig... mein Arm wird ganz schwer... mein Arm wird angenehm warm... mein Atem wird ruhig und gleichmäßig... mein Herz schlägt ruhig und gleichmäßig... ich bin ganz gelöst, entspannt und locker, ganz ruhig«. Solche Sätze sind es, die den gewünschten Zustand suggerieren sollen und können; der Effekt wird durch die Kraft des Wortes provoziert. Durch Autogenes Training kann sich der Übende in einen besonderen Bewusstseinszustand versetzen, der nicht nur einzelne Körperfunktionen, sondern auch die Wahrnehmungs- und die Reaktionsfähigkeit verändern kann. Derra erklärt es so: »Durch die Konzentration auf die entspannenden Formeln, durch das Sich-nach-innen-Wenden und das Wahrnehmen des Körpers kommt es zu einer Umschaltung von einem aktivierenden, leistungsfördernden Nervensystem auf den Teil des Nervensystems, der von anspannen auf entspannen umschaltet.«

Mit der Methode der Autosuggestion macht das Autogene Training etwas möglich, was biologisch eigentlich nicht vorgesehen ist, nämlich mit Willenskraft auf lebenswichtige Prozesse und Funktionen im Körper einzuwirken, die normalerweise ohne bewusstes Zutun - autonom - ablaufen wie Atmung, Herzschlag, Blutdruck. »Man kann seinem Herz nicht befehlen: 'schlag langsamer', aber über den Umweg von Wärme-, Schwereempfindung und Atmung kann man sehr wohl Einfluss nehmen«.

Diese Beeinflussung des im Grunde unbeherrschbaren autonomen oder vegetativen Nervensystems ist eine Technik, die Geduld und Übung erfordert. »Der Effekt hängt stark vom regelmäßigen Üben ab«, sagt Derra, »das ist wie beim Lernen einer Sprache.« Denn Autogenes Training ist keineswegs, wie viele glauben, »ein schlaffes Sinken in die Entspannung, sondern ein aktiver Vorgang des Loslassens«. Wenn man täglich zwei oder dreimal übe, könne man es sich in etwa drei Wochen gut aneignen und es im Alltag sogar in schwierigen Situationen schon anwenden. Deutlich länger - mindestens sechs Monate - dauert es, strebt man das an, was Schultz »die gehobenen Aufgaben« nannte, also die Oberstufe, die ins Meditative mit Wachträumen reicht: »Man muss in der Lage sein, 30 bis 60 Minuten im Entspannungszustand zu verharren, und das ist ein Wachzustand«, erklärt Derra, »das gelingt einem Anfänger nie, der schläft spätestens nach zehn Minuten ein.«

Dass Schultz 1935 in seinem Standardwerks warnte, Autogenes Training erfordere in jedem Falle ärztliche Aufsicht, hält Derra für eine Forderung, hinter der auch »Futterneid« stehe, und die heute bei der präventiven Anwendung überholt sei. Auch ein Psychologe, ein Sozialarbeiter oder Lehrer mit Kenntnissen in der Anatomie und pädagogischen Fähigkeiten könne Laien die Technik vermitteln. Keineswegs im Sinne des Erfinders und der Sache sei es allerdings, wenn sich Menschen die Formeln des AT vorsprechen lassen, sei es durch andere oder über Kassetten und CDs. Derra: »Was es zu lernen gilt, ist nicht, der beruhigenden Stimme zu lauschen, den ganzen Ritualablauf zu hören - das ist Hypnose -, sondern die Augen zu schließen, sich selbst zu sagen 'Ich bin ganz ruhig', und das nach wenigen Sekunden auch zu spüren.«

Um nach einigen Minuten aus der Autosuggestion erholt und hellwach hervorzugehen, muss man sich am Ende aktivieren. Schultz gab dafür die kommandohafte Formel vor: »Arme fest, tief Luft holen, Augen auf!« In seiner Bad Mergentheimer zieht Derra vor, diese, wie er es nennt, »preußische Art der Rücknahme« durch eine »bayerische« zu ersetzen: Strecken, Dehnen, Räkeln, damit man wieder in Gang kommt. Während der Übung sinken Blutdruck und Herzfrequenz, die Atmung ist flacher und die Hauttemperatur steigt an. Sie erreicht ihren Höhepunkt erst etwa zehn Minuten nach Übungsabschluss. Untersuchungen haben belegt, dass der Entspannungseffekt im Körper noch nachwirkt, wenn man schon längst wieder im Stress ist.

Medientipps zum Thema:

Klaus Derra: »Autogenes Training für zwischendurch«, 24,80 Mark
I.H.Schultz/Klaus Thomas: »Das Original-Übungsheft für das Autogene Training«, 8,90 Mark
Klaus Thomas: »Praxis des Autogenen Training: Selbsthypnose nach I.H. Schultz«, 29,90 Mark
Helmut Brenner: »Autogenes Training Oberstufe - Wege in die Meditation«, 29,90 Mark
Klaus Thomas: »Das Autogene Training - die CD«, 39,90 Mark
Cleo A. Wiertz: »Gezielt entspannen mit Autogenem Training«, Übungsheft und CD, 24,90 Mark.

- alle erschienen bei Thieme/Trias-Verlag Stuttgart -

Interessante Links zum Thema:

http://www.autogenes-training24.de/
http://www.lebenskraft.de/autogene.htm
http://www.aok.de (suchen bei Ratgeber/Gesundheits-Infothek)

Die Geheimnisse um J. H. Schultz

Die Rolle des Autogenen Trainings und seines Begründers im Nationalsozialismus

Das Autogene Training kennt fast jede/r, aber wer weiß schon viel über seinen Begründer Johannes Heinrich Schultz? Dessen Werdegang und Wirken Anfang des Jahrhunderts lassen sich relativ gut rekonstruieren. Weitgehend im Dunkeln aber liegen seine Haltung und die Bedeutung des Autogenen Trainings im Dritten Reich.

Immer wieder einmal wird in Fachkreisen diskutiert, ob das Autogene Training nicht eventuell als eine deutsche Antwort auf die »jüdische« Psychoanalyse gewertet werden muss. Der Verdacht, dass sein Begründer Johannes Heinrich Schultz (1884-1970) antisemitisch eingestellt und Nazi war, wird u.a. dadurch genährt, dass Biographen die Jahre 1933 bis 1945 stillschweigend übergehen. Die Zeitschrift »Psychologie heute« (2/1983) sagte Schultz 1983 nach, er habe 1938 ein Dinner mit Edmund Jacobsen, dem Begründer der Progressiven Muskelentspannung, mit den Worten ausgeschlagen, er habe keine Zeit, mit Juden zu essen. Ein »Spiegel«-Artikel von 1988 (25/1988) unterstellt Schultz, ein strenger Gutachter für Erbgesundheit und homosexuelles Verhalten gewesen zu sein, der Homosexuelle ins KZ geschickt habe, »wenn sie nicht vor seinen Augen einer Frau beiwohnen konnten«.

Interessant ist auf jeden Fall, dass Schultz in den fraglichen Jahren unter dem überzeugten Nationalsozialisten Matthias Heinrich Göring, einem Vetter des späteren Reichsmarschalls Hermann Göring, am Berliner »Deutschen Institut für psychologische Forschung und Psychotherapie« wirkte. Dieses spielte eine wesentliche Rolle bei der Professionalisierung der Psychotherapie in Deutschland. In der Geschichtsschreibung der Klinischen Psychologie und Psychotherapie werden die Jahre 1933 bis 1945 gern ausgeblendet, denn der nationalsozialistische Staat unterstützte und förderte die Lehre, Forschung und Praxis. Einer mutmaßlicher Grund dafür liegt für den Psychologen, Historiker und Soziologen Oskar Mittag in der nationalsozialistischen Ideologie mit ihren »verschwommenen Psychologismen etwa vom Willen, den Elementarkräften des Unbewussten oder auch der Psychologie der Masse«. Solche Vorstellungen »haben vermutlich die Stellung der jungen Profession der Psychologie und Psychotherapie gestärkt«.

Mittag hat sich 1994 in einem Aufsatz (Report Psychologie 19, 3/94) eingehend mit der Rolle von Schultz auseinander gesetzt. Er kam zu dem Ergebnis, dass dieser keineswegs Antisemit war, dass er sogar bemüht war, Homosexuelle vor ihrer Verschleppung ins KZ zu bewahren und auch in Publikationen nicht vor Affronts gegen die herrschenden Sprachregelungen zurückscheute. Der Arzt und Psychotherapeut, in erster Ehe mit einer Jüdin verheiratet, war kein glühender Nationalsozialist, aber gewiss auch kein Widerstandskämpfer.

Wie viele seiner Kollegen hat er, so Mittag, »aller Wahrscheinlichkeit nach die sich nach 1933 bietende Gelegenheit zur Etablierung und institutionellen Ausweitung der Psychotherapie begrüßt, [...] mit dem NS-System kooperiert und sich in vielerlei Hinsicht opportunistisch verhalten.« Dass er persönlich nicht frei von Eitelkeiten war, illustriert eine amüsante Anekdote. Schultz' Initialen werden oft, auch in Büchern, falsch »I.H.« abgekürzt. Wenn er sich auch von seinen Schülern gern als »Gott des Autogenen Trainings« titulieren ließ, mochte er dies doch nicht in der Berliner Version »Jott« - schon gar nicht in seinem Namen.

Wie Millionen andere ging Schultz, der offenbar weitgehend seine professionelle Autonomie wahren konnte, wohl den Weg des geringsten Widerstandes, um für die Sache der Psychotherapie zu arbeiten. Das Autogene Training hatte nach Mittag keine herausragende Bedeutung im Nationalsozialismus, einer Zeit, »in der das 'zackig-preußische Anbrüllen' und die 'muskuläre Dauerspannung' [...] in wehrmachtspsychologische Untersuchungen einging«. Schultz selbst habe sein Verfahren von der soldatisch strengen Haltung abgegrenzt und als Gegenpol einer Haltung charakterisiert, bei der »Wünsche niedergeschrien, Entbehrungen missachtet, Vitalreaktionen durch bewusste Spannung hinuntergebogen« wurden.

Was für ein Mensch Schultz tatsächlich war, ist heute schwer greifbar. Nach dem Medizinstudium wirkte er in Göttingen, Jena und Berlin. Schon früh setzte er sich intensiv mit Suggestion und Selbsthypnose auseinander, offenkundig auch im ureigenen Interesse. Denn von seinem sechsten Lebensmonat bis zu seinem 30. Lebensjahr litt Schultz unter schweren Asthmaanfällen, die er erst durch sein Verfahren der »konzentrativen Selbstentspannung« unter Kontrolle bringen konnte. Das Autogene Training entwickelte er aus der Hypnose heraus. Persönliche Erfahrungen mit Selbstsuggestion sammelte er im Ersten Weltkrieg als Chefarzt des Nervenlazaretts im belgischen Namur mit zuletzt 2000 Betten.

Suggestion und Hypnose, die zuvor unter Sigmund Freud als klinische Behandlungsweise von Krankheiten an Bedeutung verloren hatten, gewannen erst als Folge des Ersten Weltkriegs wieder Auftrieb: Die dramatischen Belastungen und traumatischen Ereignisse führten bei vielen Soldaten zu schweren Neurosen. Selbst wenn sie Gasangriffe organisch heil überstanden hatten, erblindeten sie. Ohne dass Trommelfeuer ihr Gehör nachweisbar geschädigt hatte, wurden sie taub. Verschüttete litten nach ihrer Rettung an Zittern, Schütteln, Krämpfen und Lähmung. Weil es an Psychotherapeuten und an neuen Behandlungsmethoden mangelte, griff man auf das Bewährte zurück, etwa auf die Hypnose.

Lange davor hatte Schultz bereits in Breslau seine Hypnoseforschungen aufgenommen und »allabendlich in einem 'Hypnoseambulatorium' an 40 bis 50 Patienten ausgedehnte Erfahrungen über die Erlebnisse im hypnotischen Zustand und über dessen gesundheitliche Wirkungen« gesammelt, schreibt sein vor wenigen Jahren verstorbener Schüler, der Arzt und Psychotherapeut Klaus Thomas.

Ab 1920 führte Schultz, damals Professor in Jena, im Sanatorium »Weißer Hirsch« in Dresden umfassende klinische Versuche mit dem Autogenen Training durch. Schultz ergänzte diese Forschungen durch sorgfältige Beobachtungen an gesunden Versuchspersonen in Kursen an der Lessing-Hochschule in Berlin, oft - heute undenkbar - in Gruppen mit zwei-, dreihundert Teilnehmern. Nach zwölf Jahren systematischer theoretischer und praktischer Forschung erschien 1932 sein Standardwerk zum Autogenen Training. Bis 1966, wenige Jahre vor seinem Tod, gab Schultz übrigens in Berlin noch selbst Kurse.

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